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6. August 2014

Von der Verdinglichung


Beobachtungen zum Thema Musik, Klang und Sound, Menschen, Dinge und Geräusche, freier Wille, Determinismus und dem Sinn des Ganzen. Der Ort: die wunderschöne Bahnhofshalle Liverpool Street in London. Die Zeit: ein heißer Wochentag im Juli, rush hour, zwischen 8 und 9 Uhr vormittags. Die Klangkulisse: Schritte, Durchsagen und eine musikalische Rolltreppe. Vorsicht: autoplay.


Eigentlich wollte ich nur die Quelle dieses Kreischens lokalisieren und aufzeichnen. Als ich den Ursprung, die besagte Rolltreppe, gefunden hatte fand ich ebenso eine einladende Bank in optimaler Lausch-Position. Also nahm ich Platz. Und trank erstmal meinen Tee aus. Und lauschte der Rolltreppe. Was folgte war ein Erweckungserlebnis. Manchmal sind es dann auch die unscheinbaren Dinge denen wir neue Erkenntnisse verdanken.

Musik, was ist das eigentlich? Geschmackssache, würden manche vielleicht sagen. Eine kulturelle Errungenschaft, Emotion in Reinform würden andere vielleicht entgegnen. Mathematisches Konstrukt, klaren und beweisbar gültigen, konsistenten Regeln unterworfene Harmonien, Rhythmen, erprobte Tonfolgen. Warum bevorzugen wir manche Klänge gegenüber anderen? Warum singen, pfeifen oder summen wir, wenn wir glücklich sind? Wer bestimmt was wir im Radio oder im Supermarkt hören (müssen)? Wodurch unterscheidet sich Musik von Alltagsgeräuschen?

Wir suchen nach Stille oder beruhigenden Klängen um uns zu konzentrieren, verwenden uns wohlvertraute Musik um in andere Sphären zu entfliehen, und vertrauen die Kontrolle über unseren Körper diesem durchgehenden Beat im Club an. Musik ist immer auch Funktion, unmittelbarer noch als Geruch und viel schwerer auszublenden als Licht.

Was mir an diesem Tag bewusst geworden ist, das ist die unglaubliche Schönheit der alltäglichen Geräusche, die wunderbare Welt der künstlichen Klänge. Wenn wir genau hinhören dann werden die Soundblockaden, die wir uns gerne auf den Kopf schnallen, plötzlich überflüssig. Wenn wir genau hinhören, dann hören wir nicht die wegen eines Defekts rasselnde Zeitschaltuhr der Therme, sondern einen wunderbar variantenreichen und Sicherheit schaffenden Groove. Dann können wir die langsamen Walgesänge, die wunderschöne Larghissimo-Sonate, die Meditation der Rolltreppe wahrnehmen. Dann sind wir empfänglich für das Klangbild wiederholender Lautsprecherdurchsagen ebenso wie für Strassenerhaltungsarbeiten, Schritte und andere Geräusche. Wir müssen nur die Ohren offen und den Alltagsgeräuschen ihren Raum lassen.

Denn auch das ist Teil der modernen Welt: neue Geräusche, neue Musik und neue subtile Nuancen zwischen all dem Trubel. Eine Maschine mag in ihrer Grundidee vielleicht perfekt sein, ohne störende Nebengeräusche und detailliert berechenbar. In der Anwendung aber wird jede Maschine zu einem Zufallsautomaten, zu einem Wesen mit eigener Poesie. In der physikalischen Realität entwickelt jede noch so glatte Idee ein wunderschönes Eigenleben. Nimm das erstbeste Gerät in deiner Nähe, halte dein Ohr ganz nahe und versuche die Stimme, die innewohnende Musik wahrzunehmen!

Musik ist der Akt bei dem einem Klang Aufmerksamkeit geschenkt wird.

Was ist der Sinn des Lebens und dürfen wir einen solchen vorraussetzen? Manche Menschen sind ja manchmal vom Determinismus überzeugt, von der Idee alles wäre berechenbar. Ob der Mensch als solcher über freien Willen verfügt sei dahin gestellt, wichtiger scheint mir allerdings die Beobachtung, dass uns diese philosophische Fragestellung überhaupt nicht zu interessieren braucht. Zwar sind ZufallUnschärfe und die Würfelspiele Gottes weithin anerkannte Prinzipien der modernen Physik, konkret genügt es aber eigentlich schon zu wissen, dass der Berechenbarkeit rein praktische Grenzen aufgelegt sind. Eine Simulation kann sich nicht selbst simulieren. Diesem Prinzip folgend dürfen wir auch unmittelbar der Rolltreppe und ihren Lautäußerungen Absicht und freien Willen (wie auch immer wir den definieren mögen) unterstellen. Denn durch welches Prinzip könnten wir da eine strikte Grenzlinie ziehen? Und diesem Prinzip folgend ist vor allem auch jeder Klang Musik, jeder Sound Emotion und alles was wir hören oder anderweitig wahrnehmen können von immanenter Schönheit und Einzigartigkeit durchdrungen.

Mich machen diese Klänge immer noch und auch immer wieder glücklich, empfänglich für all die kleinen Schönheiten die mir täglich über den Weg laufen. Es sollte allerdings auch ganz klar gesagt werden, dass das keine Musik für nebenbei ist, keine Musik für unterwegs. Diese Klänge wollen wahrgenommen werden in ihrer eigenen Schönheit und auch deswegen kann ich nur empfehlen andere Ablenkungen, andere Sinneswahrnehmungen nach Möglichkeit zu reduzieren. Meine ganz persönliche Empfehlung lautet: Einfach mal morgens, gleich nach dem Aufstehen zu London Sounds meditieren und dabei nichst sonst machen. Schließe die Augen und lausche den Gesängen dieser neuen Welt, lausche den unauffälligen Auffälligkeiten, heiße den Tag willkommen und freue dich auf die kleinen Dinge, die dir heute dann besonders auffallen werden.

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